BSR 23: Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen aka Und täglich grüßt das Murmeltier (pt. 2)

Prolog

„Freundschaft ist ein heiliger Name, ist eine heilige Sache; Freundschaft knüpft sich nur unter Guten, gründet sich nur auf gegenseitige Achtung; sie entsteht und erhält sich nicht durch eine Wohltat oder irgendeine rechte Tat, sondern durch das rechte Leben. Ein Freund ist des andern gewiss, weil er seine Reinheit kennt; die Bürgen, die er dafür hat, sind seine gute Natur, seine Zuverlässigkeit und seine Treue. Wo Grausamkeit ist, wo Unehrlichkeit ist, wo Ungerechtigkeit ist, da kann nicht Freundschaft sein. Wenn sich die Bösen versammeln, sind sie nicht Genossen, sondern Helfershelfer; sie sind nicht traulich beisammen, sondern ängstlich; sie sind nicht Freunde, sie sind Mitschuldige.“

Die Frage

Ein offensichtlich nicht ungebildeter Franzose mit einem für Nicht-Franzosen schwer auszusprechenden Namen stellte sich die Frage, warum sich Menschen von einem einzelnen Tyrannen unterjochen ließen, der doch weiter gar keine Macht habe, als die, die die unterjochten Menschen ihm gäben? Wie kann es sein, dass ein ganzes Volk still hielte und nicht aufbegehrte, wenn ihm vor seinen Augen ein Großteil seiner Freiheit genommen würde?

Dieselbe Frage stelle ich mir seit einigen Monaten – genauer gesagt, seit dem Beginn der Corona-Situation. Bereits am 8. März 2020 habe ich in meinem ersten Blog-Beitrag zum Thema Corona darauf hingewiesen, dass hier etwas Großes im Gange ist. Die meisten Menschen haben es offenbar bis heute nicht verstanden – oder wollen es nicht wahrhaben.

Umso interessanter war es für mich festzustellen, dass dieselben gesellschaftlichen und psychologischen Phänomene bereits vor einem halben Jahrtausend treffend beobachtet, analysiert und erfreulicherweise sogar für die Nachwelt niedergeschrieben wurden. Und das drei Jahrhunderte bevor sich Gustave Le Bon mit seinem Buch Psychologie der Massen dem Verhalten des Einzelnen in der Masse wissenschaftlich zu nähern begann.

Dem geneigten Leser, der mit offenen Augen durchs Leben geht, werden die Parallelen zur heutigen Zeit nicht verborgen bleiben.

Der Mensch

Étienne de la Boëtie brachte um das Jahr 1550 seine Gedanken zu der oben genannten Frage zu Papier und gab seiner Abhandlung den Namen Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen.

La Boëtie eröffnet seine Ausarbeitung mit der Frage, wie es sein könne, ,,dass so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur so viel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten.“

Er führt aus, dass die Natur des Menschen offenbar so beschaffen sei, dass er, der Mensch, bereit sei, aus Dankbarkeit auf einen Teil seiner Bequemlichkeit zu verzichten, wenn er Gutes empfangen habe, „um die Ehre und den Gewinn dessen, den man liebt und der es verdient, zu erhöhen.“ Wenn sich also eine entsprechende Führungspersönlichkeit durch entsprechende Voraussicht und Kühnheit, die Menschen zu verteidigen und zu leiten, hervorgetan habe, so seien diese offenbar bereit, ihr zu vertrauen, zu gehorchen und ihr etliche Vorteile über sich einzuräumen.

La Boëtie führt darüber hinaus an, dass sowohl den Weisen wie den Toren, den Mutigen wie den Feigen der Wunsch nach den Dingen gemein sei, deren Besitz sie glücklich und zufrieden mache. Doch nur die Kühnen handeln, denn sie fürchten keine Gefahr. Die Feigen und Trägen hingegen können weder dem Übel standhalten noch das Gute erobern. Er zeigt auf, dass es sich dabei keineswegs nur um Feigheit handele, wenngleich er der Feigheit und Trägheit der Menschen einen großen Stellenwert beimisst. Er bietet als mögliche Erklärung, dass der Mensch die Freiheit nicht begehre, weil sie zu leicht zu bekommen sei; und wenn er sie dann hätte, sie womöglich ihren Reiz verlöre.

Offenbar selbst nicht zufrieden mit seinen Erklärungsansätzen, kommt la Boëtie immer wieder zur Ausgangsfrage zurück, die er in alle Richtungen dreht und wendet.

„Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu plagen, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch  selbst? […] Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, dass ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, dass er, wie ein riesiger Koloss, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.“

La Boëtie sieht den Menschen als von Natur aus vernunftbegabt und frei an und mit den Rechten der Natur ausgestattet, worunter er offenbar universell gültige, aber nicht näher dargelegte moralische und ethische Grundsätze versteht.

„Es gibt in unserer Seele irgendwie eine natürliche Ansaat von Vernunft, die, wenn sie durch guten Rat und Sitte gehegt wird, zur Tugend erblüht, Gegenteils aber, wenn sie sich oft gegen die aufschießenden Laster nicht halten kann, erstickt, verkümmert und eingeht.“

In seinen Augen habe die Natur die Menschen nach demselben Modell erschaffen, sodass wir alle Brüder seien, gleichwertig, aber dennoch nicht gleich. Denn nach la Boëtie’s Verständnis seien die Menschen sehr wohl unterschiedlich in ihren Fähigkeiten – „die Natur […] die einen am Körper und am Geist mehr bevorzugt hat als die anderen“ –, aber es sei gewiss nicht die Absicht der Natur, der „Gehülfin Gottes“ und der „Lenkerin der Menschen“, dass die Stärkeren und Gewitzteren über die Schwächeren herfallen sollen. Im Gegenteil. Die ungleiche Verteilung von Fähigkeiten solle der brüderlichen Liebe Raum schaffen. „Die einen haben die Macht, Hilfe zu leisten, und die anderen die Not, sie zu empfangen.“ Knechtschaft sei in jedem Falle wider die Natur, weil sie mit Unrecht einhergehe und damit im Widerspruch zur Natur stehe.

La Boëtie argumentiert, dass Menschen, würden sie ganz neu zur Welt kommen und könnten sich zwischen Freiheit und Untertänigkeit entscheiden, stets die Freiheit wählen würden. Sie gäben ihre Freiheit nur auf, wenn sie entweder durch Waffengewalt gezwungen oder betrogen würden. Interessanter Weise führt er das Betrogen werden aber weniger auf die List anderer zurück, sondern in größerem Maße auf Selbsttäuschung: „[…] dabei werden sie nicht so oft von anderen überlistet wie von sich selber getäuscht […]“.

In der Gewohnheit sieht la Boëtie eine wesentliche Einflussgröße bzgl. der Bereitschaft eines Volkes, auf seine Freiheit zu verzichten. So führt er aus, dass es freilich eine Generation der Gezwungenen gäbe. Aber deren Nachfahren würden in die Knechtschaft hineingeboren und kennen es daher nicht anders. Sie hielten den Zustand des Joches für den der Natur. La Boëtie sieht damit die Gewohnheit des Menschen als erste Ursache seiner freiwilligen Knechtschaft: dass er in sie hineingeboren werde.

Die zweite Ursache sieht la Boëtie im Verloren gehen der Tapferkeit sobald ein Machthaber das Zepter übernommen habe. Verstärkt würde dies durch Spiele und Volksbelustigungen, landläufig auch Brot und Spiele genannt.

„So gewöhnten sich die Völker in ihrer Torheit, an die sie selbst erst gewöhnt waren, an diesen Zeitvertreib, und vergnügten sich mit eitlem Spielzeug, das man ihnen vor die Augen hielt, damit sie ihre Knechtschaft nicht merkten. […] Den Tölpeln fiel es nicht ein, dass sie nur einen Teil ihres Eigentums wiederbekamen und dass auch das, was sie wiederbekamen, der Tyrann ihnen nicht hätte geben können, wenn er es nicht vorher ihnen selber weggenommen hätte. […] So ist die Volksmasse immer gewesen: beim Vergnügen, das sie in Ehren nicht bekommen dürfte, ist sie ganz aufgelöst und hingegeben: und beim Unrecht und der Qual, die sie in Ehren nicht dulden dürfte, ist sie unempfindlich.“

Damit hat la Boëtie herausgearbeitet, warum ein Volk freiwillig bereit ist, in Knechtschaft zu leben:

Die meisten Menschen sind träge und kennen nur die Welt, in die sie hineingeboren werden. So hält sicher die Mehrzahl der Deutschen unser Land für freiheitlich-demokratisch und die großen Medienanstalten für unabhängig und deren Berichterstattung für ausgewogen und wahrheitsgetreu.

Die meisten Menschen verlieren ihre Tapferkeit, sobald sich eine Führungspersönlichkeit anschickt, die Geschicke eines Volkes zu übernehmen. Etwas überspitzt könnte dies als risiko-averse Obrigkeitshörigkeit bezeichnet werden.

Die meisten Menschen lassen sich wunderbar mit Brot und Spielen unterhalten und damit bezüglich ihrer Aufmerksamkeit von den Zentren der Macht ablenken. Beispielhaft seien für Deutschland die Fußball Bundesliga erwähnt oder Deutschland sucht den Superstar oder das Dschungelcamp und ähnliches. Das Angebot an „Spielen“ ist schier unendlich.

Es fehlt allerdings noch eine schlüssige Erklärung dafür, wie es dem Tyrannen gelingt, seine Macht nachhaltig zu sichern.

Die Tyrannei

Étienne de la Boëtie argumentiert, dass es stets ein kleiner Kreis sei, eine Handvoll, die den Tyrannen schützen, „um die Gesellen seiner Grausamkeiten, die Genossen seiner Vergnügungen, die Zuhälter seiner Lüste und die Teilhaber seiner Räubereien zu sein.“ Sie stützen den Machthaber nicht nur, sondern steuern ihn auch, sodass „er für die Gesellschaft nicht bloß den Urheber seiner eigenen Schändlichkeit, sondern auch der ihrigen vorstellt.“ Unter dieser Handvoll gebe es je hundert weitere und unter denen wiederum tausend weitere, denen von den hundert eine Funktion gegeben würde. Sie setzen die Tyrannei im kleinen Maßstab fort. Dies nennt la Boëtie Günstlingswirtschaft, durch die Gewinne und Beutezüge mit dem Tyrannen geteilt würden. Das heißt, es gebe damit fast ebenso viele, denen die Tyrannei nütze, wie es Freiheitsliebende gebe.

„Sowie ein König sich als Tyrann festgesetzt hat, sammelt sich aller Unrat und aller Abschaum des Reiches um ihn […].“ Und damit meint la Boëtie nicht die kleinen Gauner, sondern er spricht von denen, „die von brennender Ehrsucht und starker Gier befallen sind: sie stützen den Tyrannen, um an der Beute Teil zu haben, und unter dem Haupttyrannen sich selber zu kleinen Tyrannen zu machen.“

Er argumentiert ausführlich, dass das Leben eines solchen Schmarotzers im Grunde aber noch viel weniger frei sei, als das Leben eines Bauern, Landmanns oder Handwerkers, weil der Schmarotzer nicht nur tun müsse, was der Tyrann sagt, sondern es auch denken müsse, um in vorauseilendem Gehorsam dem Tyrann zu Diensten zu sein. Er müsse ihm gefällig sein und immer seinen eigenen Geschmack für den seinen aufgeben und seine eigene Natur zugunsten der des Tyrannen verleugnen. La Boëtie sieht dies als viel größere Freiheitsberaubung. Aber der Ehrgeiz und die Gier verstellten den Blick derer auf sich selbst, die um jeden Preis Reichtum erwerben wollen.

Abschließend führt la Boëtie aus, dass das Volk für seine Leiden in der Regel weniger den Tyrannen anklage, sondern mehr diejenigen, die ihn lenken: die Handvoll.

Die Andersdenkenden

Étienne de la Boëtie weist explizit darauf hin, dass es immer ein paar Menschen gebe, die sich nie an die Unterdrückung gewöhnen. „[…] das sind freilich die, die einen guten Verstand und einen hellen Geist haben und sich nicht wie die große Masse mit dem Anblick dessen begnügen, was ihnen zu Füßen liegt; die nach vorwärts und rückwärts schauen, die Dinge der Vergangenheit herbeiholen, um die kommenden zu beurteilen und die gegenwärtigen an ihnen zu messen; das sind die, welche von Haus aus einen wohlgeschaffenen Kopf haben und ihn noch durch Studium und Wissenschaft verbessert haben; diese würden die Freiheit, wenn sie völlig verloren und ganz aus der Welt wäre, in ihrer Phantasie wieder schaffen und sie im Geiste empfinden und ihren Duft schlürfen; die Knechtschaft schmeckt ihnen nie, so fein man sie auch servieren mag.“ La Boëtie weist hierbei auch auf die Tatsache der häufigen Wirkungslosigkeit hin, da die Freiheitsliebenden in der Regel in der Minderheit seien und einander nicht kennen.

Epilog

Der Weg könne also nur ein redlicher sein, auf den jeder einzelne sich besinnen möge, geleitet von einem moralisch-ethischen Wertesystem:

„Lernen wir also, lernen wir, das Rechte zu tun: heben wir die Augen zum Himmel, um unserer Ehre willen oder aus Liebe zur ewig gleichen Tugend, blicken wir zu Gott dem Allmächtigen auf, dem immerwährenden Zeugen all unserer Taten und dem gerechten Richter unserer Verfehlungen.“