BSR 44: Massenpsychose condensed (pt. 1)

Prolog

„Wenn es nur irgendwo wirklich bösartige Menschen gäbe, die heimtückisch böse Taten vollbrächten, dann müsste man sie nur von den anderen absondern und vernichten. Aber die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft durch das Herz eines jeden Einzelnen. Und wer vermag schon ein Stück seines eigenen Herzens zu vernichten?“

So formulierte es Alexander Solschenizyn in seinem weltberühmten Roman Der Archipel Gulag.

Henryk M. Broder fand im Januar 2019 etwas andere Worte, die aber auf dasselbe hindeuten: „Wenn Ihr Euch irgendwann wieder mal fragt, wie es so weit kommen konnte, dann ist die Antwort: Weil sie damals so waren, wie ihr heute seid!“

Der Mensch ist wie er ist – mit all seinen Stärken, mit all seinen Schwächen. Und manchmal geschehen mit uns, in uns, Dinge, derer wir uns selbst nicht bewusst zu sein scheinen und die wir auch nur schwer bis gar nicht zu kontrollieren vermögen. Man könnte meinen, Henryk Broder sah die „Corona-Zeit“ voraus.

Die Vorgeschichte

Jahrhunderte lang waren die Menschen Gefangene religiöser Engstirnigkeit. Der Mensch als Sünder, der lügt und betrügt und den irdischen Versuchungen erliegt. Wenn der Mensch auf der von Gott geschaffenen Erde leide, dann könne es nur daran liegen, dass er dem moralisch-ethischen Anspruch nicht gerecht und dafür von Gott bestraft würde. Das gesellschaftliche Leben war übersät mit düsteren Geboten und unendlichen Verboten. Es galt, nicht die Welt zu hinterfragen, sondern den Menschen selbst.

Das alles änderte sich, als der Mensch irgendwann im 17. Jahrhundert einen „Blick nach draußen“ wagte und begann, sich seines Verstandes zu gebrauchen. Die Wissenschaft wurde geboren und damit das Zeitalter der Aufklärung eingeläutet. Immanuel Kant definierte 1784 treffend:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Und das tat der Mensch. Jedenfalls der ein oder andere. Galileo, Copernicus, Newton und viele andere schoben die religiös geprägten Vorurteile und Dogmen ihrer Zeit beiseite und boten neue, rationale Erklärungen für beobachtbare Phänomene auf der Welt.

Die aus den Jahrhunderte alten religiösen Dogmen resultierende Angst der Menschen vor Fegefeuer, Hölle und Verdammnis wurde für unbegründet erklärt. Ebenso wurden die Gebote und Verbote der Vergangenheit für überflüssig und unnötig erklärt, um die gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen. Der Gesellschaftsvertrag gegenüber der Kirche wurde aufgekündigt. Rede- und Meinungsfreiheit wurde zum Grundrecht. Bildung wurde allgemein zugänglich. Liebe und Sexualität wurde dem reinen Fortpflanzungszweck enthoben.

Das Wesen der Wissenschaft, die die Basis für die Aufklärung bildete, war ihre Aufgeschlossenheit, ihre Weltoffenheit. Sie beseitigte nach und nach die Vorurteile, die über die beobachtbaren Dinge vorherrschten. Sie sprach die Wahrheit.

Nicht jeder Wissenschaftler machte sich damit Freunde. Denn das Aussprechen der Wahrheit durchbricht einen bestehenden sozialen Konsens, der einer Gruppe von Menschen Sicherheit und Zuflucht und damit inneren Halt gewährt. Wer die Wahrheit sagt, lebt gefährlich, weil er den Unmut der Gruppenmitglieder auf sich zieht, wenn die Wahrheit mit dem Weltbild der Gruppe konfligiert. So wichtig und wertvoll ein Gruppenkonsens zu bestimmten Zeiten sein mag, wenn er nicht von Zeit zu Zeit hinterfragt und erneuert wird, führt er zu degenerativen Entwicklungen in der Gesellschaft.

Die Aufgeschlossenheit der Wissenschaft setzte sich im Laufe der Jahrhunderte dennoch durch und brachte großartige Einsichten und Erfolge, die den Menschen enormen Wohlstand bescherte. Sie war und ist einfach in ihren Prinzipien (Gesetze der Mechanik), klar in ihrem Beobachtungsgegenstand (greifbare, sichtbare Welt) und geradezu furchteinflößend in ihrer praktischen Anwendbarkeit (von der Dampfmaschine über den Fernseher bis zur Atombombe und zum Internet).

Diese Wissenschaft verfügt über alles, was es braucht, um mit ihren materiellen Errungenschaften die Menschen zu verführen. Der Mensch fliegt ins All, sieht und hört, was auf der anderen Seite der Erde vor sich geht, kann Gehirnaktivitäten sichtbar machen, minimalinvasive Operationen durchführen und schneller als der Schall fliegen.

Während die Menschen vor der Aufklärung vergeblich darauf warteten, dass Gott Wunder vollbringt, hat die Wissenschaft sie möglich gemacht. Der Glaube der Menschen wurde durch Wissen ersetzt.

Doch wie im richtigen Leben hat alles seinen Preis – so auch die technischen Errungenschaften. Passte sich der Mensch Jahrtausende lang seiner Umwelt an und lebte im Einklang mit der Natur, so wurde es ihm nun möglich, die Welt mittels Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung mehr und mehr seiner Vorstellung anzupassen. Dadurch änderte sich das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen wie auch zu seiner sozialen Umwelt.

Die elektrische Beleuchtung entfremdet den Menschen vom natürlichen Rhythmus des Tages. Der Kompass ersetzt die Orientierung anhand der Sterne. Die industrielle Arbeit zieht den Menschen aus der Natur in die Fabrik in der Stadt. Der Computer zieht ihn vor den Bildschirm. Vornehmlich den eigenen.

Wurden früher Informationen im Rahmen von sozialem Miteinander Mund zu Mund weitergegeben, brachte das Fernsehen die verschiedensten Arten von Informationen direkt in jedes Wohnzimmer. Der Familienabend vor dem Fernseher wurde weiter aufgespalten durch die „Computerisierung“ des privaten sowie beruflichen Lebens. Die meisten Menschen verfügen heute über ihr eigenes „Device“, auf dem sie ihre personalisierten Informationen abrufen können oder ungewollt präsentiert bekommen. Die Atomisierung der Menschen ist in vollem Gange. Der Mensch driftet mehr und mehr in seine eigene virtuelle Welt ab, sodass auch der eigene Beitrag im sozialen Miteinander als immer weniger sinnstiftend erlebt wird. Latente oder tatsächliche Vereinsamung ist die Folge.

Der technische Fortschritt erzeugt darüber hinaus strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft – ganze Berufe fallen weg, weil sie durch Maschinen oder Computer ersetzt werden, neue entstehen, denn die Maschinen und Computer wollen entwickelt, programmiert und repariert werden. Banken, Versicherungen, Apotheken, Ärzte, Anwälte – ganze Branchen „verschwinden“ im Internet. Die Services werden weiter existieren, aber nicht in einer Mensch zu Mensch Beziehung, sondern online. Virtuell. Mit etwas Glück wird das eigene Anliegen noch von einem Menschen bearbeitet. Mit etwas weniger Glück wird das eigene Anliegen von einem KI Chatbot „abgewickelt“, der zuvor von einem hochqualifizierten Menschen programmiert wurde.

Durch diese technischen Errungenschaften und dem daraus resultierenden Wohlstand entstehen neue Risiken und Gefahren, welche mithilfe ausufernder Regelungen versucht werden zu begrenzen, damit niemand zu Schaden kommt oder übervorteilt wird. Die Menschen haben bei zunehmendem Wohlstand mehr zu verlieren – je mehr sie haben, desto größer wird die Angst, es wieder zu verlieren. So scheint es.

Der Wunsch nach Risikominimierung und Vermeidung von Fehlverhalten erhöht tendenziell die Regelungs- und Vorschriftendichte. Doch je mehr Vorschriften und Regelungen es gibt, desto wahrscheinlicher wird es, dagegen zu verstoßen. Man denke nur an das deutsche Steuerrecht. Es ist dem normalen Bürger kaum mehr möglich, alle Vorschriften und Regelungen zu kennen, gegen die man verstoßen könnte. Endlose Verfahrensvorschriften bestimmen, wer bei einem Fehlverhalten rechtlich und finanziell haftbar ist. Es ist eine geradezu zwanghaft anmutende Regelungs- und Kontrollwut zu beobachten, die eine nicht zu übersehende Eigendynamik entfaltet hat, um den gesellschaftlichen Ängsten zu begegnen, die der technische Fortschritt, der Wohlstand und der strukturelle Wandel mit sich bringen.

Wenn aber die menschlichen Beziehungen zunehmend misstrauensbasiert sind, geht die gesamte gesellschaftliche Energie in die Schaffung verschiedenster „Sicherheitsmaßnahmen“, die wiederum zu noch mehr Misstrauen führen. Ein positiver Feedback-Loop ins Negative entsteht. Dies ist mental in hohem Maße erschöpfend.

Die Aufklärung versprach den Menschen mehr Autonomie und Freiheit, brachte ihnen aber am Ende eine zunehmende Abhängigkeit und Machtlosigkeit gegenüber den privatwirtschaftlichen und den öffentlichen Institutionen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet haben und mehr und mehr konzentrieren. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass die wirtschaftlichen und politischen Anführer primär ihre eigenen Interessen und nicht mehr die der gesamten Gesellschaft vertreten. Es findet eine Distanzierung statt, die zu empfundener Einsamkeit führt, zum Abgeschnittensein von der Natur, zur Auflösung sozialer Strukturen und zur Machtlosigkeit aufgrund einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des eigenen Handelns und Seins.

Der Weg in die Entfremdung und Atomisierung des Menschen scheint nicht aufzuhalten. Oder um es mit Goethe zu sagen: „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los.“

To be continued.