BSR 36: Zensur condensed

Die USA schreiben in ihrer Verfassung verschiedene Rechte der Bürger fest. Dazu zählen die Rede- bzw. Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit. In ihrem ersten Verfassungszusatz heißt es, dass es der Regierung untersagt ist, ein Gesetz zu erlassen, das die Rede- oder Pressefreiheit einschränkt.

„Congress shall make no law […] abridging the freedom of speech, or of the press […]“.

Das hindert diese Regierung oder ihre Behörden natürlich nicht daran, eine andere Regierung zu ermutigen, einen Journalisten wegen der Veröffentlichung der Wahrheit einzusperren, aber das ist ein anderes Thema.

Auch die Europäische Menschenrechtskonvention unterstützt das Recht auf freie Meinungsäußerung. In Artikel 10 Abs. 1 heißt es:

„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben […].“

Sie hält sich allerdings in Absatz 2 eine Hintertür offen, die Ausübung dieser Freiheit unter bestimmten Bedingungen einzuschränken.

„Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden […]“

Im UN-Sozialpakt wird in Artikel 13 das Recht eines jeden auf Bildung festgeschrieben.

„Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss. Sie stimmen ferner überein, dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss.“

Im engeren juristischen Sinne ist damit die Schul-, Hochschul- und Berufsausbildung gemeint. Unter Nutzung meines gesunden Menschenverstandes kann man darunter auch den freien Zugang zu jedweder Art von Information verstehen. Denn es sollte die Entscheidung eines jeden Einzelnen sein, wo und in welcher Form er sich über welches Thema bilden möchte.

Nimmt man diese Grundsätze zusammen, so laufen sie auf das Streben nach einer Gesellschaft hinaus, in der Positionen zu praktischen oder ideologischen Fragen auf der Grundlage von Diskurs und Dialog eingenommen und weiterentwickelt werden. Meinungen werden ermutigt und Gegenmeinungen ebenso, wobei die Bevölkerung ihre eigenen Positionen auf der Grundlage ihrer Einschätzung der Qualität der vorgelegten Beweise und Argumente finden kann. Dies ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Aufklärung.

Warum die Bedeutung der Rede- und Meinungsfreiheit gar nicht hoch genug bewertet werden kann, hatte ich bereits in meinem Blog-Beitrag zur Redefreiheit ausgeführt.

Wichtig ist, dass man die Lebenserfahrung und auch das Leiden eines anderen akzeptieren, anerkennen und nachempfinden kann und dennoch mit der Position, die er zu einem Thema vertritt, nicht einverstanden sein muss. Das schließt sich keineswegs gegenseitig aus. Mitgefühl und Verständnis sind Wegbegleiter dieses Strebens nach einer toleranten und rücksichtsvollen Gesellschaft. Unsere Künstler und Philosophen haben diese Nuancen der Wahrnehmung und die Ablehnung des binären Denkens schon lange beleuchtet.

Die Zensur einer Meinung wirkt ihr nicht entgegen, sie untergräbt sie.

Die EU hat die Medienanstalt Russia Today (RT) zensiert. Der Sender ist in Deutschland über das Internet nicht mehr ohne weiteres erreichbar. Die USA, denen dieser rechtliche Weg in gewisser Weise verwehrt ist, haben ihren Einfluss auf oder die Zusammenarbeit mit Big Tech (YouTube, Google, Facebook, Twitter, …) für den gleichen Zweck genutzt. Auch die Russische Föderation mischt sich in das Zensurspiel ein.

Wie ist es möglich, in einem Konflikt mit einer komplexen Geschichte ein ausgewogenes Verständnis zu entwickeln, wenn die Perspektive eines Protagonisten unterdrückt wird? Wie ist es möglich, sich über die Ereignisse auf dem Laufenden zu halten, ohne die Perspektive der anderen Seite(n) zu kennen?

Ich lehne Zensur als gültige Methode zum „Gewinnen eines Streits“ oder als Methode, mir den Zugang zu einem nuancierten Verständnis der Ereignisse zu verwehren, strikt ab.

RT

Der Sender schreibt über sich selbst*:

„RT berichtet über Ereignisse, die von den Mainstream-Medien übersehen werden, bietet alternative Perspektiven auf das aktuelle Geschehen und macht das internationale Publikum mit dem Russischen Standpunkt auf die wesentlichen globalen Ereignisse bekannt.“

Der Sender macht auch keinen Hehl aus seiner Finanzierung:

„RT ist eine autonome, gemeinnützige Organisation, die öffentlich aus dem Haushalt der Russischen Föderation finanziert wird.“

RT ist also vergleichbar mit BBC, France-24, Deutsche Welle, CBC, ABC (Australien), ARD, ZDF und vielen anderen „westlichen“ staatlichen Nachrichtenagenturen. Sie werden von der Regierung finanziert und bringen ihre nationale (oder staatliche) Perspektive in die Themen ein, über die sie berichten.

Aus diesem Grund erwarte ich, dass sich die Berichterstattung von RT im Falle eines bewaffneten oder diplomatischen Konflikts zwischen Russland und anderen Ländern von derjenigen der Gegenseite unterscheidet und die Perspektive einschließt oder sogar dominiert, die die russische Regierung vermitteln möchte. Bei einem bewaffneten Konflikt wird dies in dreifacher Hinsicht der Fall sein. Damit kann ich arbeiten. Ich erwarte die umgekehrten Vorurteile in den von der ukrainischen Regierung genehmigten Medienquellen und in den Medienagenturen anderer verbündeter Nationen. Auch damit kann ich umgehen.

Was ich aber nicht akzeptiere, ist, dass mir der Zugang zu den verschiedenen Perspektiven verwehrt wird. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die im Westen „erlaubten“ Medien im Jahr 2014 durch ihre tendenziöse Berichterstattung über genau diesen Konflikt, um den es nun geht, unangenehm aufgefallen waren und dafür öffentlich gerügt wurden [1], [2].

Das sind übrigens genau dieselben Medien, die uns in den vergangen zwei Jahren so wunderbar wahrheitsgetreu, sachlich und unaufgeregt über das Corona-Geschehen „informiert“ haben und dabei stets unser Bestes im Sinn hatten.

Und genau diese Medien werden uns nun als einzige Perspektive angeboten, um uns die Welt des Ukraine-Krieges erklären?

Bin ich der einzige, der das merkwürdig findet?

Ich befürworte nicht, was RT sendet. Aber ich unterstütze unser aller Recht, Zugang dazu zu haben, sodass wir uns unsere eigene Meinung bilden können, anstatt eine Meinung gebildet zu bekommen und damit zum Propagandaopfer zu werden.

Und noch immer gilt der Satz, den wir uns gut merken sollten:

Wer zensiert, hat Angst vor der Wahrheit.

Das scheint allerdings die meisten Menschen gar nicht sonderlich zu stören. Denn gleichzeitig gilt für den Mensch als soziales Wesen:

Lieber in gemeinsamer Verzerrung leben, als in einsamer Realität.


*Falls der Link aufgrund der aktuellen Zensur nicht funktioniert, möchten Sie vielleicht eine VPN-App Ihres Vertrauens auf Ihrem Gerät installieren. Dadurch wird Ihre IP-Adresse „neutralisiert“ und der Zugriff sollte funktionieren.