In der gesamten westlichen Welt leben wir in einem Zeitalter von nahezu grenzenlosem Wohlstand, von persönlicher Freiheit und von fast unbegrenzten Möglichkeiten und Chancen, während ein großer Teil der übrigen Welt weiterhin unter den Fesseln leidet, die die Menschheit seit jeher geplagt haben. Der durchschnittliche westliche Bürger ist weitgehend frei von der Gefahr des Verhungerns, vermeidbarer Krankheiten und erdrückender Armut. Und obwohl die Gefahr eines Krieges näher gerückt ist, konnten wir nahezu acht Jahrzehnte lang fast ununterbrochenen Frieden genießen.
Dennoch ist den meisten von uns gar nicht bewusst, wie ungewöhnlich und kostbar unsere Freiheiten und Annehmlichkeiten sind. Sie sind ein Erbe, das wir allzu oft als selbstverständlich ansehen. Wir sollten es stärker zu schätzen wissen und entsprechend schützen. Und es fällt selbst denjenigen von uns, die das erstaunliche Ausmaß dieser Errungenschaften begreifen, oft schwer zu erklären, wie wir sie erreicht haben.
In den letzten Jahren tauchte immer öfter die Frage auf, warum Länder auf der ganzen Welt, von Australien bis zu den Vereinigten Staaten, mit demselben geografischen Namen „Westen“ bezeichnet werden. Diese Verwirrung ist ein Zeichen dafür, dass wir in zunehmendem Maße vergessen, wer wir sind und woher wir kommen.
Die Kritiker haben insofern recht, als der „Westen“ natürlich kein geografischer Ort ist. Er ist vielmehr eine Ansammlung von kulturellen und philosophischen Ideen, die wir von den alten jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Zivilisationen geerbt haben.
Die westliche Zivilisation ruht auf drei mächtigen Säulen: Jerusalem, Athen und Rom. Jerusalem bietet eine in der geistigen Welt begründete Moral. Athen konzentrierte sich mehr auf das Wort, die Logik, die Wissenschaft, die sich im irdischen Bereich offenbart. Rom bot die Vorteile und Gefahren von Macht, Imperium und Reichweite.
Diese Ideen sind nicht mehr dieselben wie vor 2.000 Jahren. Im Gegenteil, sie wurden im Laufe der Jahrhunderte verfeinert, manche ausgesondert, andere verbessert, um uns den technischen Fortschritt, die individuelle Freiheit und den Wohlstand zu bringen, den wir heute genießen.
Seltsamerweise leugnen viele westliche Länder heute die Existenz unseres unverhältnismäßigen Erfolgs. Wer unsere außergewöhnlichen Errungenschaften beschreibt, riskiert, als eine Art Vormachtmensch tituliert zu werden, der lediglich sein eigenes Gefühl unverdienter Überlegenheit beschreibt und nicht die Realität vor Ort.
Aber die Beweise sind eindeutig. Die Abstimmung erfolgt seit einigen Jahren mit den Füßen. Man braucht nur ein beliebiges westliches Land zu besuchen, um zu sehen, welch außergewöhnliche Anziehungskraft unsere Gesellschaften auf diejenigen ausüben, die nicht das Glück hatten, hier geboren zu werden. Millionen von Menschen riskieren jedes Jahr ihr Leben, um mit allen Mitteln in westliche Länder zu gelangen. Diese außergewöhnliche Tatsache, die wir alle als selbstverständlich ansehen, bedarf einer Erklärung.
Warum geschieht das?
Die gesamte westliche Kultur hier in Kürze zu beschreiben, ist natürlich unmöglich. Über die Entwicklung unseres Denkens existieren ganze Bibliotheken, in denen dokumentiert wurde, was uns von anderen unterscheidet. Wenn wir die Tatsache anerkennen, dass unsere Zivilisation andere Ergebnisse hervorbringt, dann müssen wir auch anerkennen, dass der Rahmen ein anderer sein muss.
Auf die Frage, was uns anders macht, fallen oft Begriffe wie Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft. Aber viele von uns haben vergessen, was sie wirklich bedeuten und warum sie so wertvoll sind. Konzentrieren wir uns daher auf drei kritische Säulen des modernen Westens, die sich hinter diesen Begriffen verbergen.
Die erste dieser Säulen ist die zentrale Prämisse unserer Zivilisation: die Idee der Unantastbarkeit des Individuums. Dieser Gedanke, der während des größten Teils der Menschheitsgeschichte als radikal gegolten hatte und auch außerhalb unserer Zivilisation immer noch gilt, besagt, dass jedes Individuum einen intrinsischen moralischen Wert besitzt, der nicht mit Gewalt zugunsten der Bedürfnisse des Kollektivs aberkannt werden kann. Dies entstammt dem jüdisch-christlichen Konzept des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde und daher eine angeborene Menschenwürde besitzt. Dies ist im Übrigen in Art. 1 des Grundgesetztes (GG) der Bundesrepublik Deutschland verankert.
Aus diesem zentralen Grundgedanken unserer Weltanschauung ergibt sich die Regierungsform, die wir heute Demokratie nennen und die sich aus der Idee einer repräsentativen Regierungsform entwickelt hat.
Dass man ein Mitspracherecht haben sollte, wie und von wem man regiert wird, ist eine ebenso radikale westliche Idee, die eine logische Folge der Grundannahme ist, dass jeder Einzelne wertvoll ist.
In vielen anderen Kulturen werden die Menschen, die über andere herrschen, nicht gewählt, sondern als ein Akt Gottes angesehen oder als naturgegeben. Manchmal ist der Herrscher schlecht, damit muss man dann leben. Ein andermal ist er gut und dafür kann man dankbar sein.
Wie jedes System hat eine mitspracheorientierte Regierung sowohl Stärken als auch Schwächen. Ihre große Stärke ist die Reaktionsmöglichkeit auf Rückmeldungen aus dem Volk und die Möglichkeit, unfähige Politiker entweder zur Rechenschaft zu ziehen oder sie abzusetzen. Jedenfalls in der Theorie.
Die zweite Säule unserer Zivilisation leitet sich wesentlich von der ersten ab, ist aber dennoch eigenständig in Bedeutung und Funktion. Wir glauben, dass die Freiheit der Menschen, ihre Meinung zu äußern, ihren Interessen nachzugehen und sich in der Wirtschaft, in der Forschung und im Künstlerischen zu betätigen, von besonderem Wert ist. Einfacher ausgedrückt: wir glauben, dass es unter sonst gleichen Bedingungen umso besser für eine gesamtgesellschaftliche Prosperität ist, je mehr Freiheiten der Einzelne genießt. Dies ist in Art. 5 GG verankert.
Damit ist allerdings nicht die Freiheit gemeint, alles zu tun, was man tun will, ohne Rücksicht auf Verluste. Es versteht sich von selbst, dass auch in einer Demokratie die Freiheit des Einzelnen durch die Rechtsstaatlichkeit begrenzt wird (Art. 2 GG). Gesetze dienen dazu, die Freiheit aller zu schützen und dafür zu sorgen, dass ein Einzelner, der seine Freiheit auslebt, nicht die Freiheit seiner Mitmenschen verletzt oder untergräbt. Freiheit ist daher weniger das Recht zu tun, was man will, sondern auch und vor allem die gesellschaftliche Verpflichtung zu tun, was man tun sollten. Es ist die Freiheit, das Beste aus sich zu machen, sein Potenzial zu entfalten, kreativ zu sein, Neues zu erschaffen, zu diskutieren, zu erforschen, zu hinterfragen und sich zu entfalten – zu seinem eigenen Wohle und zum Wohle der Gesellschaft.
Dies gilt nicht für andere, eher kollektivistische Kulturen, in denen die Hauptaufgabe des Einzelnen darin besteht, seine eigenen Vorlieben den Bedürfnissen der Gruppe unterzuordnen. Das kollektivistische System hat zwar einige Vorteile, ist aber zwangsläufig eine Bremse für Innovation und Wachstum und damit für Wohlstand. Gesellschaften, die ihre Bürger gleichmachen wollen und ihre individuellen Unterschiede und Talente unterdrücken, hemmen ihre technologische, wissenschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung. Die empirischen Belege sind eindeutig.
Ein ganz besonderer Wert, den wir der Freiheit beimessen, ist die freie Meinungsäußerung. Sie ist für alles, was unsere Gesellschaften sind und tun, grundlegend. Eine repräsentative Regierung ist ohne die freie Äußerung politischer Meinungen und eine solide und offene Debatte nicht möglich. Bahnbrechende Forschung ist in einem Umfeld, in dem man sich nicht traut, kontroverse Ideen zu äußern, nicht möglich; denn bahnbrechende Ideen sind naturgemäß kontrovers. Noch grundlegender ist jedoch die Tatsache, dass der Mensch gar nicht denken kann, ohne zu sprechen. Wir alle wissen, dass wir unsere Gedanken aussprechen oder aufschreiben müssen, um sie wirklich zu verstehen. Darüber hinaus wissen wir, wie es ist, jemandem zuzuhören, der seine Ideen frei äußert, und dadurch unser Denken beeinflusst. Mit anderen Worten: Um klar denken zu können, muss man frei sprechen dürfen und die freien Reden der anderen hören können.
Der unglaubliche Anstieg des Lebensstandards, den wir nicht nur bei den Bürgern des Westens, sondern auf der ganzen Welt beobachten konnten, ist erst in den letzten zwei Jahrhunderten eingetreten. Davor lebten alle außer einer Handvoll Monarchen und Aristokraten in elender, erdrückender Armut. Der Grund dafür, dass die Menschen im Westen nicht mehr unter diesen Bedingungen leiden, hat seine Wurzeln in der industriellen Revolution, die die Erkenntnisse der Wissenschaft in technologische Errungenschaften umsetzte, die die Welt verändert haben und weiterhin verändern. Dass diese Revolution in England stattfand, war kein Zufall. Wie wir gerade erörtert haben, wurde sie durch eine Reihe von Faktoren begünstigt, darunter die intellektuellen Freiheiten der Aufklärung, die eine Kultur des wissenschaftlichen Forschens und der Innovation förderten, und auch ein starkes Rechtssystem, dessen Grundlage die sich entwickelnde Vorstellung von der Notwendigkeit des Schutzes der Rechte des Einzelnen war. Zu diesen Rechten gehörte vor allem das Recht auf Privateigentum, das Investitionen schützte und Innovationen förderte.
Die westliche Kultur verfügt mehr als jede andere über den intellektuellen und rechtlichen Rahmen, der marktwirtschaftliches Handeln fördert. Wir glauben, dass man, wenn man etwas von Wert für seine Mitbürger schafft, in den Genuss der Belohnungen für seinen Beitrag kommen und vor willkürlicher Beschlagnahmung oder Enteignung geschützt werden sollte.
Stellen wir diesen Schutz beispielsweise einer kommunistischen Weltanschauung gegenüber, in der Menschen, die Reichtum anhäufen, zwangsläufig mit Misstrauen und Feindseligkeit beäugt werden. Während der Sowjetzeit wurden alle, von der Aristokratie bis hinunter zu den reichen Bauern, aus genau diesem Grund ihres Eigentums beraubt. Bis heute gibt es in vielen Ländern kein echtes Privateigentum. Die wirtschaftliche Entwicklung und damit der gesellschaftliche Wohlstand wird begrenzt.
Die Marktwirtschaft hingegen schafft beispiellosen Wohlstand, weil sie anstelle eines kollektivistischen Top-Down-Modells die größte Triebkraft menschlichen Verhaltens nutzt: Anreize. Diese mögen erst einmal egoistisch sein. Aber richtig ausgerichtet, ermutigt uns das marktwirtschaftliche System, im Dienste unserer Mitmenschen zu handeln, während wir nach unserem eigenen Vorteil streben. Anstatt also zu versuchen, unsere egoistischen Wünsche aus uns heraus zu prügeln in dem Versuch, eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen, setzt sich das vom Westen erfundene marktwirtschaftliche Modell mit der Realität der menschlichen Motivation und des menschlichen Handelns auseinander. In Gesellschaften mit starren Hierarchien, in denen häufig ein einziger Herrscher und seine korrupte Dienstleistungsbürokratie das Sagen haben, ist dies nicht der Fall. Dort ist es nicht zum Vorteil des Einzelnen, seinem Mitmenschen zu dienen, sondern man profitieren am meisten davon, wenn man der Hierarchie oder der vorherrschenden Ideologie dient, leider oft zum Nachteil der Mitmenschen.
Diese drei Hauptwerte – die Unantastbarkeit des Individuums, die Meinungsfreiheit und andere Grundfreiheiten wie die Gewissensfreiheit, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Innovationskraft, einschließlich des Rechts auf Privateigentum und Unternehmertum – sind die Erfolgsfaktoren des sogenannten Westens. Und der Beweis für ihre Wirksamkeit ist die Tatsache, dass andere Länder, die traditionell nicht zu unserer Zivilisation gehörten, aber diese Werte übernommen haben, wie Japan, Südkorea oder Taiwan, nun viele der gleichen Errungenschaften genießen. Millionen von Menschen wurden aus der Armut befreit, Kinder, die einst im Säuglingsalter starben, leben bis ins Erwachsenenalter und genießen Freiheiten, die sich ihre Vorfahren nie hätten vorstellen können.
Die Frage, wie wir diese Errungenschaften am besten bewahren und schützen können, wird immer häufiger gestellt. Es gibt viele Dinge, für die wir uns einsetzen und die wir von unseren gewählten Vertretern fordern können. Das Wichtigste, was jeder von uns tun kann, ist jedoch, das Verständnis für die Einzigartigkeit unseres großen Erbes an unsere Kinder weiterzugeben. In einer Gesellschaft, die so bequem ist wie die unsere und ideologisch derart durchseucht, ist das keine leichte Aufgabe. Aber es ist möglich.
Eines der wirksamsten Instrumente ist das Reisen. Verständnis und Erkenntnis entsteht durch Vergleich. Je mehr wir die Welt jenseits der Grenzen unserer eigenen Zivilisation kennenlernen, desto deutlicher wird unser Privileg.
Natürlich gibt es immer Raum für Verbesserungen. Und da sich die technologische, geopolitische, soziale und kulturelle Landschaft verändert, müssen wir unsere grundlegenden Werte weiterhin an die Realität der heutigen Zeit anpassen. Solange wir aber das Recht behalten zu wählen, wer uns regiert, frei unsere Meinung zu äußern und davon profitieren können, das Leben unserer Mitbürger zu verbessern, wird uns diese Anpassung sicher gelingen.
(Inspiriert durch Konstantin Kisin)