BSR 42: Geopolitik condensed

Full Spectrum Dominance

Geopolitik ist anders. In der Geopolitik spielen Menschen keine Rolle. Mit Ausnahme derer vielleicht, die die geopolitischen Strategien erarbeiten. Sie spielen das Great Game, das große Spiel, in dem die Nationalstaaten die Figuren auf einem globalen Schachbrett sind.

In der International Relations Theory (IR) existieren mehrere Ansätze und Ordnungsmodelle zur Erklärung von internationalen Beziehungen. Eines dieser Ordnungsmodelle ist das hegemoniale. Darin ist die Welt unterteilt in Hegemonen, also diejenigen Staaten, die an der Macht sind, Revisionisten, d.h. diejenigen Staaten, die die Hegemonen zu verändern oder gar abzulösen versuchen, und Trittbrettfahrer, d.h. diejenigen, die vom derzeitigen Hegemon profitieren.

Die USA versuchen seit dem Ende des Kalten Krieges, die revisionistischen Mächte zu zähmen, und zwar zweckmäßigerweise in ihren eigenen Grenzen. Als revisionistische Staaten im Sinne der IR können China, Russland, Iran und Nordkorea angesehen werden. Eine besondere Furcht scheinen unsere anglo-amerikanischen Freunde vor einer allzu großen deutsch-russischen Nähe zu haben.

Drei der genannten revisionistischen Staaten besitzen Atomwaffen. Der Iran würde dem Club gerne beitreten. Die USA als derzeitiger globaler Hegemon sind aber bestrebt, das Aufkommen von Bedrohungen für ihren Hegemonialstatus zu verhindern. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, von bewaffneten Konflikten als ein Ende des Spektrums bis hin zu Wirtschaftssanktionen als das andere Ende des Spektrums und natürlich allem, was dazwischen liegt.

An unterschiedlichsten Stellen wird darüber debattiert, ob sich die USA eher auf China ausrichten oder sich zuerst mit Russland befassen sollten oder beides – in Internetforen, gelegentlich auch unter Journalisten, aber ganz sicher hinter verschlossenen Türen in den relevanten Bereichen der US-Regierung.

Mit Formulierungen wie „Die USA sind…“ oder „Die USA wollen…“ entsteht der Eindruck, dass die größte Supermacht der Welt in ihren Zielen geeint ist. Tatsächlich ist aber davon auszugehen, dass es verschiedene Machtzentren gibt, von denen jedes seine eigene Agenda verfolgt.

Manchmal können diese Agenden durch „Buy-Ins“ mit anderen Machtzentren auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet werden. Das Ergebnis ist die Expansion des US-Imperiums auf der globalen Bühne. Manchmal stehen sie sich im Weg, arbeiten unabhängig voneinander, aneinander vorbei oder gar gegeneinander.

Der Syrienkonflikt liefert uns ein Beispiel dafür, als 2016 Kämpfe zwischen den von der CIA unterstützten sunnitischen islamistischen Dschihadisten und den vom US-Verteidigungsministerium unterstützten Kurden in Nordsyrien ausbrachen.

Es gibt in den USA Kräfte, aus deren Sicht es zweckmäßig wäre, wenn sich die Beziehungen zwischen den USA und Russland entspannen, um es in einem Kräftemessen mit China auf die eigenen Seite zu ziehen, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wer die Hauptmacht in Ostasien wird. Diese Leute sehen China im Vergleich zu Russland als die größere Bedrohung für die Interessen der USA. Das prägte beispielsweise auch den Ton der Außenpolitik der Trump-Regierung, die sich als erste mit China anlegte, indem sie eine gescheiterte Rebellion in Hongkong anzettelte, den Vorwurf des Völkermords an den Uiguren in Xinjiang öffentlich machte und Zölle auf für den US-Markt bestimmte chinesische Waren erhob. Die „Corona-Pandemie“ erzwang eine Pause in der Eskalation der US-Angriffe auf Peking.

Andere Kräfte in der US-Regierung sind der Ansicht, dass Russland die größere Bedrohung für die Interessen der USA darstellt, und versuchen, Moskaus Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung zu neutralisieren.

Full Spectrum Dominance (Dominanz auf allen Ebenen) heißt das Konzept, bei dem das Militär die vollständige Kontrolle über alle Dimensionen eines potenziellen Schlachtfelds hat. Um eine Dominanz auf allen Ebenen zu erlangen, muss ein Staat die nukleare Vorherrschaft besitzen, d.h. er muss in der Lage sein, einen Nuklearkrieg zu gewinnen, bei dem das Nukleararsenal der anderen Seite vernichtet wird, bevor dieses eine seiner Raketen starten kann. Russlands Atomwaffenarsenal ist das einzige Hindernis auf dem Weg zu einer amerikanischen vollumfassenden Dominanz. Dies ist nicht nur der Grund, warum viele US-Außenpolitiker zuerst Russland herausfordern wollen, sondern auch der Grund, warum der Krieg in der Ukraine gerade jetzt stattfindet.

Wieder andere wollen alles auf eine Karte setzen und es gleichzeitig mit China und Russland aufnehmen. Das sieht nach Selbstüberschätzung aus. Nichtsdestotrotz können wir mit ausreichender Gewissheit davon ausgehen, dass sich die verschiedenen Bereiche der US-Regierung und der nichtstaatlichen Machtzentren auf diesen Ansatz geeinigt haben: Das Streben nach globaler Hegemonie, bei dem sowohl China als auch Russland gleichzeitig ins Visier genommen werden.

Unterjochung der Vasallen

Um einen Wandel herbeizuführen, muss ein Teil der Machtelite auf die Seite derjenigen überlaufen, die einen Wandel anstreben. Die Machtzentren unserer anglo-amerikanischen Freunde sind sich derzeit so einig wie nie zuvor. Ein parteiübergreifender Konsens in allen imperialen Angelegenheiten scheint die Regel. Dabei stecken die Geheimdienste mit den Medienkonzernen und Big-Tech-Unternehmen unter einer Decke. Wer von der „gängigen Meinung“ abweicht, wird schnell ausgeschlossen, öffentlich geächtet und verliert im schlimmsten Fall seinen Job. Alle Machtzentren passen sich anscheinend bereitwillig den sich ständig ändernden vorherrschenden Narrativen an, die ihren Weg in Gesetze, Schulbildung und Unternehmensführung finden.

Da interessiert es auch nicht, dass dies bei der Hälfte Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Solange die Lichter an den entscheidenden Stellen nicht ausgehen, wird fröhlich weiter gemacht. So wurde die Trump-Administration beispielsweise durch eine gemeinsame Aktion der Geheimdienste mit den Mainstream-Medien, den Nichtregierungsorganisationen, der Justiz und verschiedener eingeschleuster Agenten innerhalb der Trump-Regierung unterwandert (bspw. Russiagate). Bei der Wahl 2020 wurde sichergestellt, dass sich ein solch „falsches Ergebnis“ nicht wiederholen würde.

In der Geopolitik spielen weder Menschen noch Moral und Ethik eine Rolle. Nationale Belange müssen hinter globalen Interessen zurücktreten, seien sie technokratischer oder imperialer Natur.

Russland führt seinen Krieg in der Ukraine mit einer Hand auf dem Rücken, weshalb es den Krieg nicht als Krieg, sondern als Militäroperation bezeichnet. Russland möchte nach eigenen Angaben die russlandfeindliche nationalistische Entwicklung in der Ukraine stoppen, die dort seit dem vom Westen initiierten Regime-Change im Jahr 2014 umsichgegriffen hat, aber ohne der Zivilbevölkerung zu schaden. Die Amerikaner nutzen für diesen Stellvertreterkrieg hingegen ihre massiven Waffenvorräte und Echtzeitinformationen, um die russischen Bemühungen in dem Land zu behindern. Sie sind gewillt, bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen.

Die Geostrategen der USA wissen, dass die Ukraine diesen Krieg vor Ort nicht gewinnen kann, aber sie kann ihn für die Russen so blutig wie möglich gestalten. In Verbindung mit symbolischen Schlägen wie dem auf das Marineflaggschiff Moskwa oder auf die Krim-Brücke und ihrer überwältigenden Dominanz auf der Propagandaebene können die USA auch das Ansehen der russischen Streitkräfte in den Augen vieler (aber nicht aller) Menschen schmälern.

Hinzu kommt, dass die USA die Kosten dieses Konflikts vollständig auf die Schultern ihrer europäischen Vasallen abgewälzt haben. Der Handel zwischen den USA und Russland war bereits im Vorfeld der russischen Invasion in der Ukraine sehr gering. Europa hingegen wurde im Laufe der Jahre dazu gedrängt, den Handel mit Russland aufgrund von Sanktionen einzuschränken, um der zunehmenden Belastung der Beziehungen zwischen seinem amerikanischen Gebieter und Moskau Rechnung zu tragen. Die explodierenden Energiepreise sind für jeden Bürger spürbar. Europa erlebt eine galoppierende Inflation, während die USA von Ferne zuschauen und den Europäern sagen, sie sollen den Gürtel enger schnallen, um „die Demokratie zu retten“. Gleichzeitig planen die USA, den Europäern überteuertes amerikanisches Flüssiggas zu verkaufen, um russisches Gas zu ersetzen, das viele europäische Volkswirtschaften versorgt. Und um sicherzugehen, dass die geopolitische Entwicklung in Europa auch ganz sicher in die gewünschte Richtung läuft, schafft der Hegemon wenn nötig auch gegenüber seinen „Verbündeten“ infrastrukturelle Fakten ohne Rücksicht auf deren Verluste. Denn es sind ja nicht die eigenen. Bei solchen Freunden braucht man gewiss keine Feinde. Wenn das keine Unterjochung ist.

Und die Unterjochung Europas macht auch keinen Halt vor Dingen, die weder für Russland noch für die Ukraine relevant sind. Die Amerikaner begnügen sich nämlich nicht mit der militärischen und wirtschaftlichen Beherrschung des europäischen Kontinents, sondern wollen Europa umgestalten. Mit einer gefügigen Eurokratie in Brüssel wird vieles an sie delegiert, so dass Amerikas Hand unsichtbar bleibt. Aber Amerikas Hand wird dort sichtbar, wo etwas aus dem Ruder laufen könnte.

Kurz nach Weihnachten 2021 beispielsweise legte Polens Präsident Duda sein Veto ein gegen ein von seiner eigenen Partei ausgearbeitetes und verabschiedetes Mediengesetz, um die USA nicht zu verärgern. Den Amerikanern gefiel das Gesetz nicht, das vorsah, dass die polnischen Medien in polnischer Hand sein mussten. Der Grund? Man könne in Polen keine Medien dulden, die vom ideologischen Liberalismus der USA unabhängig sind. Polen ist derzeit der wesentliche Stützpunkt der USA in ihrem Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine. Polen ist immer noch weitgehend katholisch, aber das ist im Begriff zu erodieren.

In Frankreich hat die Amerikanisierung bereits weitgehend stattgefunden. Die Oberschicht spricht fließend Englisch und konsumiert hauptsächlich amerikanische Medien. Die Macron-Wähler beherrschen die englische Sprache am besten, die Le-Pen-Wähler am wenigsten.

Sanktionsinflation

Europa würde von einem Gleichgewicht der Mächte profitieren, bei dem die USA und ein anderer Konkurrent, sei es Russland oder China, in ihrer Macht eng beieinander lägen, so dass die europäischen Staaten (oder die EU) den einen gegen den anderen ausspielen könnten, um ihre eigene Souveränität zu maximieren und ihre eigenen Interessen bestmöglich zu schützen. Mit der amerikanischen Dominanz auf allen Ebenen auf dem europäischen Kontinent wird Europa aber auf eine Ansammlung amerikanischer Vasallen reduziert, wobei Anweisungen aus Washington in Form von Erlassen, Zwang, Soft Power und kulturellem Wandel erfolgen.

Die USA setzen sowohl ihre Gegner als auch ihre Verbündeten offen unter Druck, um ihren Willen durchzusetzen. Hinter der Maske der „Demokratie“ und der „westlichen Wertegemeinschaft“ führen die USA weltweit neue Herrschaftskonzepte ein, um ihren Machtbereich weiter zu festigen und ihren Konzernen Vorteile zu verschaffen.

Die Anzahl der von den USA verhängten Sanktionen hat in den vergangenen Jahren inflationäre Züge angenommen. So ist die Zahl der mit Sanktionen belegten Länder beispielsweise in den letzten 20 Jahren von insgesamt 912 sanktionierten Parteien im Jahr 2000 auf sage und schreibe 9.421 gestiegen. Die nächsten Sanktionen werden sich gegen Indien und China richten, weil diese sich weigern, mit Russland wegen des Krieges in der Ukraine zu brechen. Auf diese beiden Länder zusammen entfallen etwa 36 % der gesamten Weltbevölkerung.

Ideologien als Eintrittshürden

Ergänzend zur Sanktionsflut gibt es das neue „Geschäftsmodell“ der ESG (Environmental, Social, Governance), das bestimmten Ideologien Vorschub leisten soll, wie z.B. dem Kampf gegen den Klimawandel oder sozialen Belangen wie Rasse, Ungleichheit, sexuelle Minderheiten etc. Natürlich dienen diese Regeln, die eingeführt werden, am ehesten den Interessen der globalen anglo-amerikanischen Konzerne. Auf diese Weise wird die Eintrittsbarriere für andere erhöht, während die bestehenden Vorteile für diejenigen, die bereits „dazu gehören“ weiter ausgebaut werden.

Wollen Sie eine Finanzierung für Ihr Vorhaben? Wollen Sie sich an verschiedenen Ausschreibungen beteiligen? Dann müssen Sie sich an diese neuen Standards halten, sonst gehen Sie leer aus. Durch ESG (und Ableger wie DEI: Diversity, Equity, Inclusion) können die USA am schnellsten einen sozialen Wandel bei ihren Vasallen herbeiführen.

Big Tech und Zensur

Die Macht der USA ist überwältigend. Sie sagen uns ins Gesicht, dass sie uns anlügen werden, um ihre eigenen Sicherheitsinteressen zu wahren.

Die Big-Tech Unternehmen sind dabei der Dreh- und Angelpunkt für die militärische, wirtschaftliche und soziokulturelle Kontrolle der USA über ihr eigenes Land und die Länder ihrer „Verbündeten“. Eine Gruppe ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter und nationaler Sicherheitsbeamter hat im April 2022 einen gemeinsam unterzeichneten Brief veröffentlicht, in dem sie davor warnen, dass anstehende Gesetzesinitiativen zur Einschränkung oder Zerschlagung der Macht der Big-Tech-Monopole (Facebook, Google und Amazon) die nationale Sicherheit gefährden würden, da ihre zentralisierte Zensurmacht ihrer Ansicht nach entscheidend für die Förderung der US-Außenpolitik sei. Jeder Versuch, die monopolistische Macht von Big Tech einzuschränken, würde den Kampf der USA gegen Moskau unterminieren.

Die Zensur spielt in der Tat eine Schlüsselrolle, da diejenigen, deren Ideen den vorherrschenden Narrativen und außenpolitischen Zielen zuwiderlaufen und die ein großes Publikum erreichen, zum „Schutz der Demokratie“ mundtot gemacht werden sollen.

Die wachsende Konformität in der westlichen Gesellschaft in Bezug auf das offizielle Narrativ der gerade „aktuellen Sache“ ist augenfällig. Nur wenige widersprechen oder lehnen sich gar dagegen auf. Die Sorge des Einzelnen vor gesellschaftlicher Ächtung, juristischer Bestrafung bis hin zur Existenzangst bei einer abweichenden Meinung ist immens. Dies erleichtert die Zensur erheblich und trägt dazu bei, dass sich die Hegemonialpolitik viel leichter durchsetzen lässt, wenn die Opposition zum Schweigen gebracht wird. Außerdem entsteht auf diese Weise der Eindruck einer überwältigenden Unterstützung für die imperiale Politik und ihre Diktate.

Verzweiflung oder Übermut?

Die Androhung von Sanktionen der USA gegen China, weil es sich weigert, mit Russland zu brechen, ist erstaunlich. Wie bereits erwähnt, treiben die USA nur sehr wenig Handel mit Russland, aber ihr Handel mit China ist ungeheuerlich. Es ist eine Sache, die Russen zu sanktionieren, da die Kosten auf die Europäer abgewälzt werden können, die es nicht wagen würden, aufzubegehren. Aber China zu sanktionieren ist eine ganz andere Hausnummer. Wie kann man China effektiv sanktionieren, ohne wirtschaftlichen Selbstmord zu begehen?

Es ist davon auszugehen, dass die geopolitischen Strategen im Finanzministerium der US-Regierung gut darüber nachgedacht haben, wie das funktionieren könnte. Gleichwohl haben die Chinesen im Gegenzug bereits vor Sanktionen gewarnt und unverblümt erklärt, dass jede Bedrohung ihrer Gas- und Ölimporte als Bedrohung ihrer eigenen nationalen Sicherheit angesehen wird.

Russland ausbluten zu lassen und China und Indien gleichzeitig sanktionieren zu wollen, wenn sie nicht mit Russland brechen. Ist das nicht ein eindeutiges Zeichen von maßloser Selbstüberschätzung? Für den einen ist dies eher ein Zeichen der Verzweiflung der USA, um ihre globale Stellung zu erhalten – das letzte Aufbegehren. Für den anderen deutet es darauf hin, dass die USA von ihrer eigenen Macht überzeugt sind und Russland auf die Europäer angesetzt haben, um ihren Schwenk nach Ostasien ein für alle Mal vollziehen zu können.

Indem sie ihre wirtschaftliche Stärke mit ihrem Militär, ihrer Soft Power und ihren technologischen Vorteilen kombiniert, um ihre sich amerikanisierenden Satellitenstaaten zu beherrschen, während sie sich in einem Stellvertreterkrieg mit dem atomar bewaffneten Russland engagiert und gleichzeitig China in Ostasien und im Pazifik zurechtstutzt, sind die USA in der Tat auf dem Weg zu einer globalen Dominanz auf allen Ebenen. Die einzige Frage, die sich stellt, ist, ob sie damit Erfolg haben werden?