BSR 39: Das Auge des Horus condensed

Die meisten von uns kennen es. Es ist Gegenstand so mancher Verschwörungstheorie und vielleicht auch so mancher Verschwörungspraxis. Wer weiß das schon? Das allsehende Auge.

Aber woher kommt es? Was hat es damit auf sich?

Dazu begeben wir uns auf eine kleine Zeitreise. Wir reisen in die ägyptische Mythologie und reduzieren sie dabei auf das in diesem Zusammenhang Wesentliche, um anschaulich zu bleiben.

Werfen wir einen Blick auf die Akteure:

Da ist Osiris. Osiris ist der alte König. Er ist der Geist, der den ägyptischen Staat gegründet hat. Als er jung war, war er ein großer Held. Aber jetzt ist er alt. Er ist archaisch. Und er sieht wissentlich über Vieles hinweg.

Osiris hat einen Bruder, Seth. Seth ist Satan. Er ist ein Vorläufer der westlichen Vorstellung von Satan.

Isis ist die Königin der Unterwelt, des Unbekannten, des Chaos. Und Isis war die Göttin einer religiösen Struktur, die über Tausende und Abertausende von Jahren herrschte.

Und dann gibt es noch Horus. Horus ist ein Falke und das ägyptische Auge. Jeder kennt das Auge mit der offenen Pupille. Horus ist ein Falke, weil Falken viel besser sehen können als wir Menschen. Sie können besser sehen als alle anderen, außer vielleicht Adler. Und sie fliegen hoch über allem.

Osiris, Seth, Isis und Horus sind die Akteure.

Osiris ist ein großer König. Er hat den ägyptischen Staat gegründet. Man könnte ihn als die Verkörperung der ägyptischen Sitten und Traditionen betrachten. Man könnte ihn als das betrachten, was die Pyramiden repräsentieren. Er war großartig, als er jung war. Aber er ist nicht mehr jung. Er ist alt und er verschließt vor Vielem absichtlich die Augen. Das bedeutet, er sieht nicht, was er sehen könnte. Er weigert sich zu sehen, was er sehen könnte.

Warum ist Osiris alt und verschließt bewusst die Augen? Weil er die Kultur repräsentiert. Und Kultur ist so! Sie ist ein väterlicher Geist, der alt und blind ist. Das ist immer so. Denn die Kultur ist ein Konstrukt der Verstorbenen. Die Verstorbenen sind nicht mehr lebendig. Folglich sind sie veraltet und können sich selbst nicht mehr auf den neuesten Stand bringen. Und wir bewohnen ihren verstorbenen Leib.

Osiris war also großartig, als er jung war, aber er ist nicht mehr jung. Er ist alt und sieht über Vieles bewusst hinweg. Er will nicht dorthin schauen, wo er hinschauen sollte. Er hat nicht die Energie oder vielleicht auch nicht den Geist.

Sein Bruder Seth ist kein guter Kerl, und Osiris weiß das. Aber er unterschätzt seine Bösartigkeit und seine Macht. Seth will das Königreich regieren.

Was bedeutet das? Jede stabile Gesellschaft ist von Blindheit und Bösartigkeit bedroht. Jede Bürokratie neigt dazu zu stagnieren und blind zu werden. Deshalb sterben ständig Unternehmen. Deshalb überlebt ein Fortune-500-Unternehmen nur 30 Jahre. Deshalb brauchen wir Wahlen, damit die Verstorbenen nicht zu lange an der Macht bleiben.

Osiris drückt gegenüber Seth ein Auge zu. Seth ist glücklich darüber. Eines Tages wartet Seth darauf, dass Osiris einen Fehler macht, dass er schwach ist. Dann greift er ihn an, zerhackt ihn in Stücke und verteilt diese Stücke über das gesamte ägyptische Land. Und tatsächlich betrachteten die Ägypter ihre Provinzen als Stücke des Körpers von Osiris.

Aber man kann Osiris nicht töten, weil er ein Gott ist. Und warum ist er ein Gott? Weil er den Geist der Struktur repräsentiert. Es gibt immer eine Struktur. Sie kann nicht zerstört werden. Sie stellt sich immer wieder neu her. Sie kann lediglich verletzt und in Stücke gebrochen werden. Das ist genau das, was Osiris widerfährt.

Dinge fallen auseinander. Warum? Weil sie alt werden und weil Bösartigkeit sie untergräbt. Das versuchten die Ägypter zu ergründen.

Seth verteilt Osiris über ganz Ägypten, so dass er sich selbst nicht wieder zusammensetzen kann. Die Dinge fallen auseinander und können nicht wieder zusammengefügt werden. Aber der Geist von Osiris lebt immer noch in seinen Körperteilen.

Was geschieht nun? Die Ordnung wird zerstört. Was kommt jetzt? Chaos entsteht. Das ist Isis. Isis ist die Königin der Unterwelt. Sie ist die Frau von Osiris. Ordnung und Chaos. Genau wie Yin und Yang. Die Ordnung bricht zusammen, und die Königin der Unterwelt taucht auf. Sie sucht nach Ordnung. Chaos sucht Ordnung. Sie geht durch ganz Ägypten und versucht, Osiris wieder zusammenzusetzen. Es ist ein Zustand des Chaos. Sie findet seinen Phallus und schwängert sich selbst mit ihm.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass dieses zerstörte Etwas das Potenzial hat, wieder aufzutauchen. Dieses Ding, das in seine Einzelteile zerfällt, ist immer noch lebendig. Es kann sich mit dem Chaos vereinen und etwas Neues hervorbringen. Das ist die Geschichte von der Auflösung von Struktur, dem Abgleiten ins Chaos und ihrer Wiederbelebung.

Isis wird schwanger. Sie steigt in die Unterwelt hinab. Sie gebiert Horus. Horus ist das ägyptische Auge. Er ist der Sohn des großen Vaters und der großen Mutter. Er ist eine messianische Figur. In der Tat wurde ein Großteil der Mythologie, die Horus beschreibt, ohne große Veränderungen extrahiert und dann Christus zugeschrieben.

Es gibt jede Menge Parallelen. Natürlich gibt es die Mythologie, dass die Juden aus Ägypten kamen. Und natürlich sind die Christen aus den Juden hervorgegangen. Also gab es einen enormen Einfluss des ägyptischen Denkens auf die Entwicklung dieser späteren Ideen. Es gibt Bilder von Isis mit Horus auf ihrem Schoß, die in Inhalt und Form praktisch identisch sind mit den späteren Bildern von Maria mit dem Christuskind.

Es ist die Heilige Mutter Gottes und der Held. Es ist kein christliches Motiv. Es ist viel tiefer als ein christliches Motiv. Es ist ein menschliches Motiv.

Isis, die Königin der Unterwelt, bringt Horus zur Welt, und Horus wächst außerhalb des Königreichs auf. Warum in der Unterwelt? Weil der Mensch es so macht. Man entfremdet sich von seiner Kultur. Immer. Warum? Sie ist alt und tot und korrupt. Und so wächst man im Chaos auf, entfremdet von seiner grundlegenden Kultur. Das entspricht dem Erwachsenwerden.

Horus wird erwachsen. Er kann sehen. Das unterscheidet ihn von Osiris. Deshalb ist Horus ein Falke.

Horus geht hin und kämpft mit Seth. Der Unterschied zwischen Osiris und Horus ist, dass Horus Seth nicht unterschätzt. Er weiß genau, mit wem er es zu tun hat.

Horus zieht los und führt einen schrecklichen Kampf mit Seth, um sein Königreich zurückzubekommen. Und während Horus und Seth kämpfen, reißt Seth eines von Horus‘ Augen heraus.

Warum geschieht dies? Weil Seth die Verkörperung von Zerstörung und Bösartigkeit ist. Und egal, wie bewusst man sich einer Sache, eines Risikos ist, selbst wenn man sich ihm freiwillig stellt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es das eigene Bewusstsein schädigt, außerordentlich hoch. Deshalb vermeiden wir es tunlichst.

Das Auge wird herausgerissen, aber Seth wird besiegt, und Horus verbannt ihn in die untersten Regionen des Reiches. Man kann ihn nicht töten. Warum nicht? Weil die bösartige, zerstörerische Kraft, die die Staaten und Organisationen und Bürokratien bedroht, nie stirbt. Sie ist immer da. Man kann sie nur vorübergehend beseitigen.

Jetzt ist Horus König. Pharao. Gott. Er hat sein Auge, und man würde meinen, dass er es einfach wieder in seinen Kopf drücken wird, um dann in der Lage zu sein zu führen. Er wäre in der Lage, seinen Platz im obersten Pantheon der Götter ordnungsgemäß einzunehmen. Aber das tut er nicht.

Er nimmt sein Auge und geht zurück in die Unterwelt. Und dort unten ist der Geist von Osiris, der sich als eine Art halbtoter Geist ausbreitet. Und er gibt Osiris sein Auge. Jetzt kann Osiris sehen.

Was bedeutet das? Du gehst ins Zentrums des Sturmes, bedroht von Böswilligkeit, bis hin zur Beschädigung deines Bewusstseins. Du gehst hinunter in das Chaos und du findest den toten Geist deiner Tradition und du gibst ihm die Sehfähigkeit zurück.

Nun, mit neuem Sehvermögen ausgestattet, regeneriert sich Osiris. Dann gehen Osiris und Horus zurück in die Welt, verbunden, und regieren gemeinsam.

Die Ägypter glaubten, dass der Pharao, der einen unsterblichen Geist hatte, die Verkörperung der Verbindung von Horus und Osiris war. Und das verlieh ihm die Oberhoheit.

Die Ägypter versuchten also herauszufinden, wer ihr Anführer sein soll. Wer soll Pharao werden? Welche Fähigkeiten muss man mitbringen, wenn man Pharao sein will, damit alles in geordneten Bahnen läuft? Man muss auf der Hut sein vor Böswilligkeit und Chaos, und man muss seine Tradition verkörpern. Das bringt einen an die Spitze der herrschenden Struktur.

Und das ist dasselbe wie der Kampf zwischen den Göttern über Jahrhunderte oder Äonen hinweg und das Entstehen der höchstmöglichen moralischen Tugend als Folge dieses Wettbewerbs.

Es ist das Auge an der Spitze der Pyramide.

Das Washington Monument beispielsweise ist eine Pyramide. An der Spitze der Pyramide befindet sich eine Kappe. Sie ist aus Aluminium. Der Grund, warum sie aus Aluminium besteht, ist, dass es das wertvollste bekannte Metall war, als das Washington Monument gebaut wurde.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass es eine Pyramide gibt und dass etwas an der Spitze steht. Aber das, was an der Spitze der Pyramide steht, ist nicht dasselbe, wie der Rest der Pyramide. Das ist das Besondere.

Die Pyramide existiert. Es gibt eine Dominanzhierarchie. Etwas klettert an die Spitze. Aber es ist nicht nur an der Spitze einer Pyramide. Dieses Etwas, das an die Spitze einer bestimmten Pyramide aufsteigt, ist dasselbe, das alle Pyramiden dominieren kann. Es kann der Beste in der Menge aller möglichen Dominanzhierarchien sein. Das ist das Gold an der Spitze der Pyramide. Das ist das Auge. Das allsehende Auge des Horus. Das haben die Ägypter herausgefunden.

Und was bedeutet das? Es bedeutet, dass das, was Dich an die Spitze bringt, Aufmerksamkeit ist. Sei aufmerksam. Sei wachsam. Halte deine Augen offen.

Das ist übrigens nicht das gleiche wie nachdenken. Es ist eher wie beobachten.

Und das Besondere am Menschen ist, dass wir gut sehen können. Wir können besser sehen, als jedes andere Lebewesen, abgesehen von Raubvögeln. Und so ist unsere Fähigkeit zu sehen tatsächlich das, was wir in der Welt nutzen. Unser Gehirn ist auf das Sehen ausgerichtet, im Gegensatz zu den meisten Tieren. Ihre Gehirne sind auf das Riechen ausgerichtet. Nicht so bei uns Menschen. Wir können sehen. Wir stehen aufrecht, so dass wir weit sehen können. Und unsere Fähigkeit zu sehen ist das, was uns rettet und was unsere Gemeinschaften rettet. Und das ist es, was diese Geschichte aufzuzeigen versucht.

Warum haben die Menschen das nicht gleich gesagt? Weil sie es nicht wussten. Es hat lange gedauert, es herauszufinden. Ewig. Es hat eine Ewigkeit gedauert, es herauszufinden.