BSR 34: Totalitarismus condensed

Der Staat trete an die Stelle Gottes, schreibt Carl Gustav Jung in seinem 1957 erschienen Spätwerk Gegenwart und Zukunft.

Zahlreiche Schriften beschäftigen sich seit dem 20. Jahrhundert mit totalitären Herrschaftssystemen – belletristische wie wissenschaftliche. Die vermutlich bekannteste unter ihnen ist George Orwells dystopischer Roman 1984.

Totalitarismus ist gemäß Wikipedia (Stand: 8.1.2022) eine Form der Herrschaft, die „in alle sozialen Verhältnisse hineinzuwirken strebt, oft verbunden mit dem Anspruch, einen ‚neuen Menschen‘ gemäß einer bestimmten Ideologie zu formen. Während eine autoritäre Diktatur den Status Quo aufrechtzuerhalten sucht, fordert eine totalitäre Diktatur von den Beherrschten eine äußerst aktive Beteiligung am Staatsleben sowie dessen Weiterentwicklung in eine Richtung, die durch die jeweilige Ideologie angewiesen wird. Typisch sind somit die dauerhafte Mobilisierung in Massenorganisationen und die Ausgrenzung bis hin zur Tötung derer, die sich den totalen Herrschaftsansprüchen tatsächlich oder möglicherweise widersetzen.“

Totalitarismus zeigt damit in großem Umfang religiöse Züge. So bauen beispielsweise sowohl das Christentum als auch der Islam auf dem Glauben auf, dass mit der Rückkehr Christus‘ ein neues goldenes Zeitalter anbrechen wird. Ähnliches gilt für den Totalitarismus. Nur ist es im Totalitarismus kein Prophet, der die Welt transformiert, sondern der Mensch erschafft das neue goldene Zeitalter selbst mittels der Direktive des allmächtigen und alles kontrollierenden Regierungsapparates. Denn die allmächtige Regierung, sei sie lokal, national oder international, wird die Gesellschaft zum Besseren verändern. Durch den tiefen Glauben, dass dies tatsächlich möglich sei, erwächst der Totalitarismus von der bloßen Regierungsform zur Bewegung, wie Hannah Arendt in ihrem Werk The Origins of Totalitarianism feststellte. Alles wird zur Glaubensfrage.

Die in der Vergangenheit vorhandenen Bewegungen strebten beispielsweise ein goldenes Zeitalter der Rassenreinheit oder der kommunistischen Utopie von Gleichheit und Wohlstand für alle an. Die Erfahrung lehrt uns, dass das Gegenteil eingetreten ist. Heutzutage ist das totalitäre goldene Zeitalter eines, in dem der Mensch im Einklang mit Mutter Erde lebt oder sogar mit Computer- und Maschinentechnologie verschmilzt und sich dadurch die biologischen Grenzen auflösen, die dem Menschen durch Krankheit und Tod gesetzt werden.

Totalitäre Utopien werden freilich niemals Wirklichkeit. Die praktischen Beispiele sind zahlreich, die Ergebnisse katastrophal – Hitlers Deutschland, Stalins Sowjetunion, Maos China. Hunderte Millionen Menschenopfer sollten empirischer Beweis genug sein. Karl Popper warnte bereits in seinem 1945 erschienenen Werk Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde davor, dass der Versuch, den Himmel auf Erden zu schaffen, unausweichlich in die Hölle führe. Und es gibt keinen Grund zu glauben, dass dies heute und in der Zukunft anders wäre.

Und dennoch erzeugen diese utopischen Visionen immer wieder aufs Neue eine Begeisterung der Massen. Die Totalitaristen – oder sollten wir vielleicht besser von Globalisten sprechen? – wissen hingegen diese Visionen – oder sollten wir vielleicht besser von Ideologien sprechen? – zu nutzen, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass das Paradies, welches am Ende auf die Menschheit wartet, jegliche Maßnahme rechtfertigt – sei es großflächige Überwachung, Zensur, Unterdrückung, Gefangenenlager oder gar die Vernichtung von Teilen der Bevölkerung.

In der totalitären Religion gibt es die Auserwählten und die Sünder. Die Auserwählten glauben an das Paradies am Ende der Reise und daran, dass ein allmächtiger Regierungsapparat das geeignete Vehikel sei, dieses Ziel zu erreichen. Sie sind die Frommen, die den Befehlen der Regierung bedingungslosen Gehorsam leisten. Die Sünder sind die Ungläubigen. Sie sind die Ketzer, die dem großen Ganzen im Wege stehen und im Zweifel beseitigt werden müssen.

Der Autor und Publizist Ramin Peymani formulierte treffend: „Wer Kritiker als Leugner bezeichnet, will Sachfragen zu Glaubensfragen machen, um Widerspruch zur Ketzerei erklären zu können.“

Die verbleibenden Bürger müssen zu wahren Gläubigen umerzogen werden, die sich innerlich zu einem Leben der strikten Konformität und des Gehorsams gegenüber der Autorität bekennen. Denn im Totalitarismus reicht es nicht aus, nur nach außen hin Gehorsam zu zeigen. Wie alle fanatischen Religionen versuchen auch totalitäre Bewegungen, das Innerste ihrer Anhänger zu kontrollieren.

Bezogen auf die faschistische Diktatur Mussolinis in Italien erläuterte Giovanni Amendola, der Faschismus habe nicht so sehr das Ziel, Italien zu regieren, sondern die Kontrolle über die italienischen Gewissen zu monopolisieren. Der Besitz der Macht reiche dem Faschismus nicht aus: er müsse das private Gewissen aller seiner Bürger in Besitz nehmen, er verlange die „Bekehrung“ der Italiener. Der Faschismus erhebe den gleichen Anspruch wie eine Religion. Diejenigen, die sich nicht bekehren lassen, werden nicht glücklich.

Um diese totalitär-religiöse Umgestaltung zu erreichen, werden verschiedene Methoden der „Bekehrung“ eingesetzt. Zwei davon sind die Demagogie und die Pädagogik. Erstere ist die Verbreitung von Regierungspropaganda durch Medien, Kunst, Literatur, Musik, Theaterstücke und Feste, letztere die ideologische Indoktrination der Kinder und Jugend im Rahmen ihrer schulischen und akademischen Ausbildung. Diese Ideologien werden seit Jahren verbreitet und sind für jeden Menschen sichtbar, werden aber nur von wenigen in ihrer Gefährlichkeit erkannt. Sie basieren zu einem Großteil auf Lügen in den unterschiedlichsten Ausprägungen.

„Und die Lüge hat uns in der Tat so weit von einer normalen Gesellschaft weggeführt, dass man sich nicht einmal mehr orientieren kann; in ihrem dichten, grauen Nebel ist nicht einmal mehr eine Säule zu erkennen,“ schrieb Alexander Solschenizyn in seinem Hauptwerk Der Archipel Gulag.

Lügen wurden schon immer für politische Zwecke eingesetzt. Lügen vertuschen Korruption, Fehler der Vergangenheit und versteckte Motive und sind ein wesentlicher Bestandteil politischer Kampagnen. Manchmal nehmen die politischen Lügen jedoch eine viel unheilvollere Form an. Die Lügen werden allumfassend, umfassen alle Aspekte des Lebens und infizieren jeden Winkel der Gesellschaft. Diese Erscheinung ist ein Zeichen dafür, dass der Totalitarismus auf dem Vormarsch ist. Denn wie die politische Philosophin Hannah Arendt feststellte, ist der Totalitarismus im Grunde ein Versuch, „die Realität in eine Fiktion zu verwandeln“. Es ist der Versuch korrupter und pathologischer globaler und staatlicher Akteure, der gesamten Bevölkerung eine fiktive Darstellung der Welt aufzuzwingen. Von dieser großen Lüge geht ein Strom von endlosen kleinen Lügen aus. In Bezug auf das kommunistische Russland schreibt Alexander Solschenizyn: „In unserem Land ist die Lüge nicht nur eine moralische Kategorie, sondern eine Säule des Staates geworden.“

Die Strategie von „Zuckerbrot und Peitsche“ ist eine weitere Technik, um die Massen für die totalitäre Religion zu gewinnen. Die Bürger werden durch ständige Kriege, ständige Panikmache, Scheinangriffe und die allgegenwärtige Bedrohung durch den Verlust von Lebensunterhalt, Eigentum, Gefängnis oder gar Leben terrorisiert. Dennoch werden diese Schreckensszenarien von Liebesbekundungen unterbrochen. Es werden zeremonielle Rituale abgehalten, um den guten Willen der Anführer zu ehren. Und die ständige Propaganda versichert den Bürgern, dass das Regime sich um sie kümmert und hart daran arbeitet, sie vor den Gefahren der Welt zu bewahren.

Dieses Wechselspiel von Zuckerbrot und Peitsche löst frei schwebende Ängste und Verwirrung aus und schafft eine traumatische Bindung zwischen dem Bürger und der Autorität, eine Bindung, die die Grundlage aller Sekten ist und gemeinhin als Massenpsychose bezeichnet wird.

Anhaltende Angstmacherei in Verbindung mit dem Versprechen, dass die Befolgung der Anordnungen des Regimes den Bürgern das Heil bringt, schafft wahre Gläubige, die alles tun, was das Regime befiehlt, selbst wenn diese Befehle von ihnen verlangen, Freunde und Familie zu verleugnen, den wirtschaftlichen Ruin zu riskieren, Zeit im Gefängnis zu verbringen oder sogar vorzeitig ihr Leben zu lassen.

Wenn ein Staat totalitär wird, sind die Menschen, die in diesen Gesellschaften leben, nicht nur seine Opfer. Alle totalitären Regime des 20. Jahrhunderts kamen unter tosendem Beifall an die Macht, da viele Bürger offen die brutale Kontrolle forderten, die diese Form der Herrschaft ausmacht. Ohne die Unterstützung und Zustimmung der Massen wäre die große Minderheit der herrschenden Klasse nur ein Papiertiger. Die Verantwortung für die Unterdrückung, das Leiden und den Verlust von Menschenleben im Gefolge des Totalitarismus kann daher nicht ausschließlich den Oligarchen, Politikern und Bürokraten aufgebürdet werden. Ein großer Teil der Verantwortung liegt bei den Bürgern selbst, die diese Form der Herrschaft unterstützen oder keinen Widerstand leisten. Václav Havel schreibt in seinem Buch The Power of the Powerless:

“Der Mensch ist gezwungen, in einer Lüge zu leben, aber er kann dazu nur gezwungen werden, weil er tatsächlich in der Lage ist, auf diese Weise zu leben. Daher entfremdet das System nicht nur die Menschheit, sondern die entfremdete Menschheit unterstützt gleichzeitig dieses System als ihren eigenen unfreiwilligen Masterplan, als entartetes Bild ihrer eigenen Entartung, als Aufzeichnung des eigenen Versagens der Menschen als Individuen.“

Der Totalitarismus ist eine Religion, die nie hält, was sie verspricht. Er schafft die Hölle auf Erden, in der viele dem Gott des Regierungsapparates geopfert werden.  Aber niemand wird in die schöne neue Welt entlassen, die versprochen wurde. Je mehr Macht dem Regierungsapparat eingeräumt wird, desto korrupter werden die Menschen, die die Maschinerie bedienen, und desto mehr versinkt die Welt im Chaos. Wie bereits vorstehend ausgeführt, sind die Belege dafür mannigfach, die Berge der Opfer unendlich hoch – Lenins und später Stalins Sowjetunion, Hitlers Deutschland, Maos China.

Leider erlebt die Religion des Totalitarismus eine Renaissance. Politiker und andere Personen in globalen Machtpositionen äußern lautstark ihren Wunsch, die Welt neu zu gestalten, neu aufzubauen oder neu zu regeln. Von den Massen wird erwartet, dass sie gehorchen und die neue Gesellschaft lieben, die ihnen aufgezwungen wird. Wenn sich der Gehorsam nicht freiwillig einstellt, wird mit erschreckender Häufigkeit Gewalt angewendet – psychische wie auch physische.

In diesen Zeiten der Tyrannei steht jeder von uns vor der Wahl: die falschen Götter des Regierungsapparates zu akzeptieren und zuzulassen oder Widerstand zu leisten.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtete Carl Jung, wie die Religion des Totalitarismus über Europa hinwegfegte, und seine Worte dienen als Aufruf zum Handeln für alle, die die Gefahren sehen, denen wir gegenüberstehen.

„Wo sind heute die überlegenen, zur Reflexion fähigen Köpfe? Wenn es sie überhaupt gibt, beachtet sie niemand: Stattdessen herrscht ein allgemeiner Amoklauf, ein universelles Verhängnis, gegen dessen zwingenden Einfluss sich der Einzelne nicht zu wehren vermag. Und doch ist dieses kollektive Phänomen auch die Schuld des Einzelnen, denn die Nationen bestehen aus Individuen. Deshalb muss der Einzelne überlegen, mit welchen Mitteln er dem Übel begegnen kann.“

Alexander Solschenizyns Schriften spielten eine wichtige Rolle beim Sturz des kommunistischen Sowjetregimes. Er riet uns zu einer persönlichen Revolution, indem wir unser Leben in einer einfachen Art und Weise anpassen, um auf den verwundbarsten Teil des totalitären Systems zu zielen – die Lügen, auf denen es aufgebaut ist. In Lebt nicht mit der Lüge erklärte Solschenizyn, wo wir den Schlüssel zu unserer Befreiung fänden: in der persönlichen Nichtbeteiligung an der Lüge.

„Die Lüge mag alles überzogen haben, die Lüge mag alles beherrschen, doch im kleinsten Bereich werden wir uns dagegen stemmen: ohne mein Mittun! […] Denn wenn die Menschen von der Lüge Abstand nehmen – dann hört sie einfach auf zu existieren. Wie eine ansteckende Krankheit kann sie nur in den Menschen existieren. […] UNSER WEG: IN NICHTS DIE LÜGE BEWUSST UNTERSTÜTZEN! Erkennen, wo die Grenze der Lüge ist (für jeden sieht sie anders aus) – und dann von dieser lebensgefährlichen Grenze zurücktreten! Nicht die toten Knöchelchen und Schuppen der Ideologie zusammenkleben, nicht den vermoderten Lappen flicken – und wir werden erstaunt sein, wie schnell und hilflos die Lüge abfällt, und was nackt und bloß dastehen soll, wird dann nackt und bloß vor der Welt stehen.“

Sich nicht an der Lüge zu beteiligen, oder in Havels Terminologie „innerhalb der Wahrheit zu leben“, bedeutet, die Lügen des Regierungsapparates nicht mehr nachzuplappern und nicht mehr so zu handeln, wie es der Regierungspropaganda entspricht. Es bedeutet, sich zu entschließen, so frei und authentisch wie möglich zu leben, unsere Individualität und Spontaneität mutig zum Ausdruck zu bringen.

Es bedeutet, unserem Gewissen zu folgen und die Moral über ungerechte Gesetze zu stellen, furchtlos nach persönlichen und gemeinschaftlichen Werten zu streben und unseren Gedanken unbeirrt von Spott eine Stimme zu geben. In der Wahrheit zu leben bedeutet, auf eine Art und Weise zu handeln, die ein kulturelles Wiedererwachen fördert und so als Gegenkraft zum erzwungenen Marsch des totalitären Systems in Richtung kulturelle Stagnation, Leiden und Tod dient.

Was wir sagen und wie wir handeln, beeinflusst nicht nur unseren Charakter, sondern auch den Zustand der Gesellschaft. Wir gestalten unsere eigene Epoche. Und wenn wir inmitten einer totalitären Herrschaft leben, besteht die grundlegende Entscheidung darin, ob wir uns auf die Seite der Wahrheit und der Freiheit oder auf die Seite der Lügen und der bösartigen Autorität stellen wollen.

Bei der Entscheidung, ob wir uns am Widerstand gegen den Aufstieg der totalitären Religion beteiligen sollen, gilt es zu erkennen, dass die Wahl nicht darin besteht, sich zu fügen und ein leichtes Leben zu führen oder Widerstand zu leisten und Schwierigkeiten in Kauf nehmen. Sich dem Totalitarismus zu fügen, ist die riskanteste aller Entscheidungen, da sie auf der naiven Hoffnung beruht, dass es dieses Mal anders sein wird, dass dieses Mal die Macht die globalen Akteure, die Politiker und Staatsbeamten nicht korrumpieren wird, dass dieses Mal das totalitäre Monster seine Kinder nicht verschlingen und eine von Menschen geschaffene Hölle auf Erden schaffen wird.

Lassen wir Solschenizyns Warnung nicht ungehört verhallen, wenn er schreibt, zu glauben, dass es heute oder bei uns anders wäre, dass hier so etwas unmöglich wäre, sei ein Irrglaube. Das Böse auf der Welt sei überall möglich.

Denn, so schreibt Gustave LeBon in seinem bereits 1895 erschienenen Buch Psycholgie der Massen:

Die soziale Täuschung herrscht heute auf allen Ruinen, die die Vergangenheit auftürmte, und ihr gehört die Zukunft. Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.